Am 26. Februar 2017 wurde der Film „Moonlight“ mit dem Academy Award für den Besten Film ausgezeichnet. Das war 77 Jahre nachdem Hattie McDaniel einen Oscar für ihre Nebenrolle in „Vom Winde verweht“ erhielt – als schwarze Frau wurde sie während der Zeremonie in eine Spezialecke verbannt – und das erste Mal, dass mit Barry Jenkins ein schwarzer Regisseur diese Trophäe gewann (genau genommen geht dieser Preis an den Produzenten, aber das fühlt sich jedes Jahr falsch an).
Seine Geschichte über homosexuelle schwarze Männer war gleichermaßen poetisch wie gnadenlos. Ein verdienter Gewinner, wenngleich in der Oscar-Logik ein Außenseiter: zu schwarz, zu schwul, zu indie.
Am nächsten Tag stellte Calvin Klein eine Kampagne vor mit den Schauspielern von „Moonlight“ in Unterwäsche. Ein fast unverschämter Scoop, der an die lange Tradition der sexuell aufgeladenen Bilder anknüpfte, mit denen diese Marke groß geworden war. Fotografiert hatte die Kampagne der Belgier Willy Vanderperre, ein alter Weggefährte des damaligen Calvin-Klein-Designers Raf Simons.
Der halb gierige, halb besitzergreifende Blick eines weißen Fotografen auf vier schwarze Männer, die gerade einen historischen Triumph feiern? Gut drei Jahre später wäre das undenkbar. Heute würde man vermutlich Tyler Mitchell buchen.
Der Kontrast
Der 25-jährige Fotograf aus Atlanta ist ein Star, seitdem er Beyoncé Knowles für die September-Ausgabe der amerikanischen „Vogue“ fotografieren durfte. Damals war er ein unbekannter Newcomer. Und der erste Schwarze, dem man diese wirtschaftlich und symbolisch wichtige Aufgabe übertragen hatte (natürlich war das Beyoncés Idee gewesen, „Vogue“-Chefin Wintour musste sich zuletzt für den latenten Rassismus in ihrem Laden entschuldigen).
Nun erscheint sein erstes Buch mit dem betörenden Titel „I Can Make You Feel Good“. Auf seinen Fotos sieht man nur junge Menschen mit schwarzer oder brauner Haut: beim Picknick, als Formation mit Hula-Hoop-Reifen, auf der Schaukel, beim Schnuppern an Blumen.
Titel und Bilderwelt bilden einen interessanten Kontrast zu den Ereignissen der letzten Wochen. Seit in Minneapolis ein weißer Polizist den wehrlos am Boden liegenden schwarzen Türsteher George Floyd mit seinem Knie zu Tode würgte, entbrannte die Diskussion über Rassismus in den USA, aber nicht nur dort.
Innenstädte brannten, Läden wurden geplündert, ein Anwaltspaar zückte die Waffen, um seine Villa zu verteidigen, eine hochrangige Managerin von Adidas musste gehen, nachdem sie das Problem runtergespielt hatte, auch in Deutschland protestierten Hunderttausende.
Und der amerikanische Präsident, dessen Vater in den Siebzigern schwarze Mieter aus seinen Häusern in Brooklyn hatte vertreiben lassen, zitierte einen berüchtigten Satz aus den Zeiten der Bürgerrechtsbewegung: „If they loot, we shoot“ (Wenn sie plündern, schießen wir).
„Neben vielem anderen war George Floyd die perfekte Bestätigung für mich, warum ich tue, was ich tue, und warum ich dieses Buch veröffentliche“, sagt Mitchell zu WELT: „Ich will gute Laune verbreiten und weiterhin die Schönheit und Lebendigkeit schwarzen Lebens porträtieren.
Das Buch ist wichtiger denn je, in dieser Zeit der Unruhe und des Protestes.“ In seinem Vorwort nennt er seine Arbeit „so optimistisch wie ein Schlag in die Magengrube“.
„Ich mache keine Sozialarbeit“
Trotzdem stellt er klar: „Ich bin kein Aktivist. Ich mache keine Sozialarbeit und gehe auch nicht demonstrieren. Auch wenn das die Politik vielleicht wirklich verändert. Aber Fotografie, wenn sie gut ist, funktioniert auf einer unbewussteren und instinktiveren Ebene. Ich hoffe, meine Arbeit gehört dazu.“
Sein Optimismus und seine scheinbare Harmlosigkeit sind gut vermarktbar, und Mitchell hat für wichtige Modemarken wie Marc Jacobs oder J.W. Anderson Kampagnen fotografiert: Für Letztere stolzierten die Models auf Stelzen durch sonnenbeschienene Felder.
Es hat eine lange Tradition in der Rezeption von Kunst und Popkultur, Schönheit und Leichtigkeit mit Oberflächlichkeit zu verwechseln. Die Fotos von jugendlichen Junkies eines Larry Clark, eines der Vorbilder von Mitchell, scheinen eine viel existenziellere Wucht zu haben als junge Schwarze, die an Blumen lecken oder mit nacktem Oberkörper posieren.
Wenn man aber die Geschichte des schwarzen Körpers in der amerikanischen Geschichte im Kopf hat – die Sklaverei, die Chain Gangs der Häftlinge, Sport als Ausweg – offenbart die „schwarze Utopie“ von Mitchell eine gar nicht so verborgene Dringlichkeit.
Er steht einerseits in der Tradition der quasiautobiografischen Fotografie, die von der Boston School um Nan Goldin begründet wurde und von Künstlern wie Wolfgang Tillmans, Juergen Teller oder Ryan McGinley fortgesetzt wurde.
Mitchell selbst wuchs in der Skaterkultur von Atlanta auf, einem der Zentren schwarzer Musik, ansonsten einer jener US-amerikanischen Metropolen, in denen Sommerhitze und Langeweile gleichermaßen lähmen. „Skateboarding ist kein Konkurrenzsport“, schreibt Mitchell: „Und daher arbeite ich auch am liebsten im Team.“
Eines seiner Fotos zeigt ein junges Paar beim Tanzen in der leer geräumten Ecke eines nicht eben glanzvollen Hauses. Es könnte die letzte Runde nach einem gelungenen Familienfest sein. Sie trägt ein freches weißes Minikleid plus strahlendes Lächeln und hat geradezu unverschämt großartige Beine.
Er lässt sich eher führen, seine stramme Hose hat einen leichten Schlag. Beide wirken verliebt ineinander und in den Augenblick. Das Bild erinnert an das ikonische Foto des malischen Künstlers Malick Sidibé von einem tanzenden Paar in den Siebzigern.
Denn die andere Tradition, die Mitchell fortschreibt, ist jene, in der schwarze Künstler ein Bild ihres Lebens und ihrer Kultur zeichnen: die Fotos von Seydou Keita, dem anderen malischen Altmeister, dessen Stoffhintergründe in Mitchells Bildern immer wieder auftauchen, die dokumentarische Härte von Gordon Parks, die erst vor wenigen Jahren in einer Ausstellung im Whitney Museum gefeierte Malerei von Kerry James Marshall.
Es hat lange gedauert, bis dieser historisch und ästhetisch so wichtige Teil der Kulturgeschichte gewürdigt wurde. Mitchell schreibt sie weiter.
Tyler Mitchell: „I Can Make You Feel Good“. Prestel, 206 S., 55 €. Alle gezeigten Bilder entnehmen wir diesem Band.
July 14, 2020 at 07:45PM
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Fotograf Tyler Mitchell: „Optimistisch wie ein Schlag in die Magengrube“ - WELT
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Calvin Klein (Deutsch)
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